Der folgende Text wurde von Dr. Stefan Zekorn, Weihbischof im Bistum Münster und für die Region Coesfeld, verfasst. Er war von 2006 bis 2010 Pfarrer in Kevelaer. Wir danken ihm ganz herzlich für seine Erlaubnis zur Veröffentlichung dieses Artikels.
„Ja, und dann ist es passiert! Ich habe meine ganz persönliche Begegnung mit Gott erlebt.“ Das schreibt kein Mystiker des Mittelalters, sondern Hape Kerkeling auf Seite 240 in seinem Bestseller „Ich bin dann mal weg“. Auf seiner Reise auf dem Jakobsweg, die er selbst bewusst nicht als Wallfahrt bezeichnet, macht Kerkeling eine Erfahrung, die er klar benennt, aber nicht näher beschreibt, denn „was dort passiert ist, betrifft nur mich und ihn“. Kerkeling macht offenbar eine Gotteserfahrung, obwohl er auf seiner Reise eigentlich nicht betet und keine Gottesdienste besucht. Doch er ist offen für die spirituelle Tiefendimension seines Weges. Was Kerkeling erlebt, teilen viele Pilger.
„Die Wallfahrt hat mir geholfen, aus dem Vertrauen auf Gott zu leben.“ „Nach für mich persönlich sehr schwierigen Monaten habe ich eine Wallfahrt gemacht und dabei Ruhe und Trost gefunden, die nun schon Wochen andauern.“ So ähnlich und in vielen persönlichen Ausprägungen beschreiben Pilger Wallfahrtserfahrungen als Gotteserfahrungen. Wallfahrt führt oft in eine persönliche geistliche Tiefe und verändert die Beziehung zum Leben. Wer eine Wallfahrt macht, lebt Gott, seinen Mitmenschen und sich selbst gegenüber sensibler – während des Pilgerns und danach. Wer eine Wallfahrt macht, erfährt oft während des Pilgerns und lange danach, wie er von einer Kraft getragen ist, die ihn über das hinausführt, was er aus sich selbst heraus kann.
„Was war das?“
Diese Erfahrungen lassen sich natürlich nicht verobjektivieren. Sie entziehen sich dem systematisch-rationalen Zugriff und sind doch empirisch greifbar. Als Wallfahrtsrektor hatte ich vor einigen Jahren eine Gruppe von Journalisten zu Gast. Bei einem Gespräch über die Wallfahrt stellten sie mir sehr kritische Fragen. Anschließend gingen wir auf den Kevelaerer Kapellenplatz und konnten erleben, wie die Pilger einer Fußprozession ihre Schlussandacht feierten und sich singend und betend auf den Rückweg machten. Als die Wallfahrer weg waren, blieben die Journalisten buchstäblich sprachlos vor innerer Bewegung zurück. Wir standen in der vorher so kritisch-‚coolen’ Gruppe und niemand sagte etwas. Schließlich fragte einer: „Was war das, was wir da gerade mitbekommen haben?“ Es war die Erfahrung von etwas, dass sich in Theorie und Erzählen nicht einfangen lässt. In unserer so säkularen und Glaubenserfahrungen gegenüber eher skeptischen Gesellschaft sind Wallfahrten und Wallfahrtsorte für viele Menschen eine der wenigen Möglichkeiten, das zu erleben, was Jesus bei der Jüngerberufung im Johannesevangelium in die Worte fasst: „Kommt und ihr werdet sehen!“
Und die Menschen kommen – gerade auch Menschen, die auf der Suche oder ‚fernstehend’ sind. Geistlich gut organisierte Fußwallfahrten, auf denen gebetet, gesungen und das geistliche Gespräch gepflegt wird, haben oft einen großen Zustrom von Menschen in jeder Altersgruppe. Auch moderne Formen wie Fahrrad- oder Inliner-Wallfahrten erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Der Hauptgrund für diesen Trend liegt nach meiner Beobachtung darin, dass die Pilger etwas erfahren, was ihnen ‚gut’ tut und was sie deshalb immer wieder suchen. Dabei spielt die Bewegung in der Natur eine wichtige Rolle, doch sie ist es nicht allein. Eine Wallfahrt ist etwas ganz Anderes als eine Wanderung. Aber die leibhafte Betätigung führt zu einem ganzheitlichen Erlebnis, das für die im Alltag oft verschüttete Wirklichkeit Gottes öffnet.
Das Unterwegssein, das Beten des so meditativen Rosenkranzes,
das Singen von Liedern, die innerlich anrühren,
die Erfahrung der Gemeinschaft von Glaubenden,
die Konzentration auf Wesentliches,
ja auf den Wesentlichen,
die zeitliche Erstreckung – all das macht Wallfahrt
zu einem ganzheitlichen Gottesdienst mit Leib und Seele.
Der Weg ist nicht das Ziel
Der Weg ist dabei nicht das Ziel, sondern ein wichtiges Mittel. Viele Pilger erleben das Unterwegssein als ein Bild für das Leben. Da gibt es Wegstrecken, die man in Freude und mit Leichtigkeit geht, und dann gibt es Strecken, die einem schwer fallen, wo einem alles weh tut. Das Gehen des Weges ist so eine sich unmittelbar erschließende existenzielle Metapher für das Leben. Die Unwägbarkeiten und Schwierigkeiten des Weges fordern bei vielen Pilgern das Ver-trauen auf Gott heraus und wecken es. Die Wallfahrt wird auf diese Weise eine geistliche Übung, sich auf Gott zu verlassen. Was der Pilger so auf dem Weg übt, wirkt auf seine seelische Grundhaltung, verwandelt falsche Ichbezogenheit in Vertrauen und Hingabe an Gott und in Liebe zum Nächsten und wirkt nach der Wallfahrt meist noch lange in den Alltag hinein. Die auf dem Weg erfahrene geistliche Verwandlung ermöglicht es, auch in den Herausforderungen des täglichen Lebens aus Gottvertrauen und in sich an Gott und die Menschen verschenkender liebender Hingabe zu leben.
Im Rhythmus des Gehens einschwingen in den Rhythmus des Gebets
Der Pilgerweg kann zur geistlichen Übung werden, weil er von einer entsprechenden Grundmotivation und Grundausrichtung her gegangen wird und weil ihm das Beten eine spezifische Prägung verleiht. Immer wieder habe ich von Pilgern gehört, wie entscheidend das Gebet während Gehens ist. Durch das Gebet wird die Wallfahrt zu einem ganzheitlichen Gottesdienst. Dabei es wichtig, dass die Mehrzahl der Gebete meditativ ist. Der Rosenkranz hat sich als altes Pilgergebet bewährt und ist auch heute für die meisten Pilgergruppen das charakteristische Wallfahrtsgebet, denn er ist durch seine Wiederholungen sehr meditativ. Der Rosenkranz leitet auf geradezu körperliche Weise an, in den Rhythmus Gottes einzustimmen. So ergänzen sich der Rhythmus des Gehens und der des Gebets und tragen und verstärken sich gegenseitig. Dabei wird es möglich, die biblischen „Geheimnisse“ nicht in erster Linie intellektuell zu reflektieren, sondern ihren Inhalt, ja ihre geistliche Wirklichkeit meditativ in sich aufzunehmen. Dadurch wird der Pilgerweg zu einem Unterwegssein mit Jesus. Darin verbinden sich die Freuden und die Sorgen, die Fragen und die Anliegen des betenden Pilgers mit dem Leben Jesu und lassen im Hinblick auf seine Sorgen und Fragen eine Antwort ihn ihm reifen, die er als Gottes Wort für sein Leben verstehen kann. Hier wird deutlich, dass die Form, die dem Pilgern am meisten entspricht, die Fußwallfahrt ist. Das bedeutet nicht, dass andere Formen nicht auch ihre Berechtigung und ihren Sinn haben. Doch kommen sie in der Regel nicht an die geistliche Intensität einer Fußwallfahrt heran.
Gemeinschaft – gerade der Verwundeten
Auch der Gemeinschaftscharakter des Unterwegsseins in einer Gruppe und des gemeinsamen Betens hat eine wichtige Rolle, denn hier wird ganz selbstverständlich Gemeinschaft von in Glaube und Taufe Verbundenen erlebt. Nicht dass Gemeinschaft auf einem mehrtägigen oder gar mehrwöchigen Pilgerweg immer leicht und ungetrübt ist. Viele Pilger machen aber die Erfahrung, dass sie Spannungen auf einer Wallfahrt besser aushalten und lösen können, weil zur Wallfahrt als geistlicher Erfahrung auch gehört, dass sie eine größere Gelassenheit und mehr Kraft zu gegenseitigem Verständnis schenkt. Zudem festigt das gemeinsame Bewältigen der mit einer längeren Wallfahrt verbundenen Anstrengungen die Gemeinschaft. Wer einmal gesehen hat, wie Pilger sich am Abend gegenseitig die wunden Füße pflegen, der versteht das das Wort von der „Gemeinschaft der Verwundeten“, das Bischof Reinhard Lettmann im Hinblick auf dieses Erleben geprägt hat. Eigentlich ist ja menschliches Zusammenleben immer eine „Gemeinschaft der Verwundeten“. Allerdings wird vielen dies im Alltag nicht bewusst. Eine Wallfahrt hebt diese Wirklichkeit in Bewusstsein und Erfahrung und hilft so, echtes Mit-Leiden einzuüben. Auch hier spiegelt eine Wallfahrt die größere Dimension. Denn Kirche wird um so mehr als der mystische Leib Christi aufgebaut und erfahrbar, je mehr sie sich als eine „Gemeinschaft von Verwundeten“ realisiert, die gegenseitig darum wissen, dies respektieren und entsprechend vorsichtig und barmherzig miteinander umgehen.
Der Weg hat ein Ziel
Schließlich hat das Ankommen seine Bedeutung. Christliches Pilgern hat immer ein Ziel. Auch darin spiegelt sich in einer Wallfahrt das Leben. Unser Leben kommt zu einem Ende, an dem Gott steht. Und so braucht auch die Wallfahrt ein Ende, ja mehr noch ein Ziel, das das Ankommen bei Gott versinnbildlicht. Meistens steht am Ziel das Bild oder die Statue Marias oder anderer Heiliger, die den Pilger empfangen und seinen Blick auf Gott wenden. Eine besondere Erfahrung ist für viele und war für mich die traditionelle Umarmung der Jakobusfigur in Santiago de Compostela. Nach langem Unterwegssein anzukommen und einen Heiligen zu finden, der – bildlich gesprochen – darauf wartet, umarmt zu werden, das ist für mich nach wie vor eines der schönsten Bilder für den Himmel, eine heilige Spur zu einer ja eigentlich unvorstellbaren Wirklichkeit. So steht die Konkretheit der Gnadenbilder für die Konkretheit der Zuwendung Gottes. In den Heiligen, die Teil am Leib Christi sind, wird Gott sichtbar. Und diese Glaubenswirklichkeit wirft ihr Licht auch auf all die ‚Heiligen’ im neutestamentlichen Sinn, die als der wandelnde Leib Christi auf ihrer Lebens-Wallfahrt unterwegs sind, das „wandernde Gottesvolk“.
Dr. Stefan Zekorn